Wenige Tage vor dem Referendum in Großbritannien über einen Austritt aus der EU am 23. Juni haben sich führende deutsche Volkswirte ziemlich klar zum Ausgang positioniert. Drei Viertel der im Ökonomen-Barometer von €uro am Sonntag und dem Nachrichtensender n-tv im Juni befragten Experten erwarten demnach einen Verbleib der Briten in der Union. Zwölf Prozent rechnen mit einem Austritt. Im Falle eines Austritts sehen fast zwei Drittel der Befragten den Finanzplatz Frankfurt als den großen Gewinner, der im Wettbewerb mit London deutlich an Gewicht zulegen könnte.
von W. Ehrensberger, Euro am Sonntag (zum Artikel auf finanzen.net)
Ebenfalls zwei Drittel der Ökonomen rechnen damit, dass im Fall eines Brexit die Wahrscheinlichkeit von Austritten weiterer EU-Länder deutlich zunehmen wird. Einen internationalen Bedeutungsverlust der Gemeinschaft befürchten 58 Prozent. Fast die Hälfte erwartet, dass Deutschland höhere Abgaben für Brüssel aufbringen muss und die Haushaltsdisziplin in der EU insgesamt weiter nachlässt. Ein Drittel sieht schließlich eine Tendenz zu stärkerer Zentralisierung.
„Hochbezahlte Angstkeule“
Die Ökonomen weisen in ihren Statements vor allem darauf hin, dass mit einem Austritt der Briten Deutschland ein wichtiger Verbündeter abhanden käme - „gegen Zentralismus, Vergemeinschaftung von Schulden und andere Risiken“, wie es Ulrich van Suntum von der Uni Münster formuliert. Für Juergen B. Donges von der Uni Köln wären die wirtschaftlichen Auswirkungen eines Brexit vergleichsweise moderat. Die EU verlöre jedoch eine liberale Stimme. Marktwirtschaftliche Kräfte würden geschwächt, interventionistische gestärkt – „kein gutes Omen für künftiges Potenzialwachstum in der EU“.
Wilfried Fuhrmann von der Uni Potsdam glaubt, dass die Inselbewohner von einem EU-Abschied profitieren könnten. „Großbritannien wird bei einem Austritt ökonomisch langfristig gewinnen und vor allem eine inhaltlich gelebte Demokratie behalten. Aber eine hochbezahlte Verängstigungskeule wird den Austritt verhindern“, so Fuhrmann. In ihren Antworten haben sich die Volkswirte zu 73 Prozent für einen klar geregelten Austrittsmechanismus aus der EU und der Währungsunion ausgesprochen. „Das würde im Austrittsfall die Phase der Unsicherheiten verkürzen und die Finanzmärkte stabilisieren“, sagt Frank Bulthaupt von der Hochschule der Sparkassen.
Unterdessen steigt das Ökonomen-Barometer zur Beurteilung der wirtschaftlichen Lage in Deutschland auch im Juni und erreicht mit plus drei Prozent auf 63,4 Punkte den höchsten Stand seit einem Jahr. Auch die wirtschaftlichen Aussichten für die kommenden zwölf Monaten haben sich verbessert: Der Wert klettert hier um 4,5 Prozent auf 66,1 Punkte.
Innehalten nach Attentat
Nach der Ermordung der britischen Labour-Abgeordneten und EU-Befürworterin Jo Cox durch einen 52-jährigen Mann am Donnerstag haben Brexit-Befürworter und Gegner ihren Wahlkampf am Freitag unterbrochen. An den Märkten keimten zum Wochenausklang Hoffnungen auf einen EU-Verbleib der Briten auf. DAX und Euro Stoxx 50 legten über ein Prozent zu.
In den Tagen zuvor hatte dagegen zunehmende Unsicherheit über den Brexit-Wahlausgang die Märkte schwer belastet und dem DAX deutliche Kursverluste zugefügt. Britische Staatsanleihen hatten neue Rekordtiefs markiert, das Pfund war auf den tiefsten Stand seit zwei Monaten abgerutscht und Investoren waren aus Rohstoffen in Gold geflüchtet.
Nach Einschätzung einiger Analysten könnte das Attentat den Brexit-Gegnern Auftrieb geben. Insgesamt wird weiter mit starken Kursausschlägen gerechnet.