Ein Jahr nach ihrem Antritt scheiden sich an der EZB-Chefin Christine Lagarde die Geister. Ihre größte Stärke, sagen Kritiker, könnte sich als größte Schwäche erweisen.
Von Wolfgang Ehrensberger (zum Artikel auf boerse-online.de)
Ein Jahr nach ihrem Antritt haben die Teilnehmer des Ökonomen-Barometers von €uro am Sonntag in der November-Umfrage die Arbeit der EZB-Chefin Christine Lagarde beurteilt. Nach Schulnoten erhielt die 64-Jährige eine Durchschnittsnote von 3,1. Eine eins gab es dabei ebensowenig wie eine sechs. 29 Prozent der Teilnehmer gaben die zwei, 40 Prozent eine drei, zwölf Prozent eine vier und 14 Prozent eine fünf.
Fest steht: Allzu viel Handlungsspielraum hatte Christine Lagarde noch nicht. Eigentlich wollte sie bei der Notenbank eine große Strategieüberprüfung anstoßen, doch dann fuhr ihr die Corona-Pandemie in die Parade und die dadurch ausgelöste Jahrhundertrezession. „Sie hat die EZB bisher gut durch die Krise gesteuert“, bilanziert Dirk Ehnts von der TU Chemnitz. Und für den früheren EZB-Direktor Otmar Issing verkörpert Lagarde eine Art Kulturrevolution bei der Notenbank. „Ihr kooperativer Stil bekommt der EZB ausgesprochen gut.“ Doch inhaltlich habe sie sich in einen fahrenden Zug gesetzt, dessen Richtung ihr Vorgänger Mario Draghi bestimmt habe.
Dabei überraschte Lagarde schon zum Antritt mit ihrer Biografie: Die Draghi-Nachfolgerin war im November 2019 die erste Präsidentin ohne volkswirtschaftliche Ausbildung. Die Juristin, vormals französische Finanzministerin und Chefin des Weltwährungsfonds IWF, wollte sich zudem nicht in die klassischen Lager von Tauben und Falken einordnen lassen, also Anhängern einer lockeren und einer restriktiven Geldpolitik. Sie wolle vielmehr eine Eule sein, sagte sie beim Antritt. Eulen verkörperten Weisheit.
„Christine Lagardes größte Stärke ist vielleicht auch ihre größte Schwäche“, warnt ZEW-Ökonom Friedrich Heinemann. „Sie will als Politikerin die EZB-Politik einer breiteren Öffentlichkeit erklären. Darin macht sie einen exzellenten Job.“ Doch nun entstehe der Eindruck, dass sie zunehmend auch Klima- und Sozialpolitik umsetzen wolle. „Überzieht sie das Mandat, gefährdet sie in letzter Konsequenz die Unabhängigkeit der EZB.“
Ähnlich sieht das Juergen B. Donges von der Uni Köln. Lagarde setze den Draghi-Kurs fort und sorge sich um die Finanzierung schwacher Euroländer, auch wenn dies einer monetären Staatsfinanzierung gleichkomme. „Mit ihr geht die Politikerin durch, die sie von Haus aus ist. Das wird den Ausstieg aus der ultraexpansiven Geldpolitik erschweren.“
Den Ausstieg aus der expansiven Geldpolitik, der irgendwann einmal ansteht, halten die im Ökonomen-Barometer befragten führenden Volkswirte für das zweitwichtigste Ziel der EZB (47 Prozent), nach Preisstabilität, die für die meisten (67 Prozent) an erster Stelle steht. Auf Platz 3 folgt die Kreditversorgung der Wirtschaft (43 Prozent). Umwelt- oder verteilungspolitische Ziele (zwölf bzw. fünf Prozent) sieht dagegen nur eine Minderheit als EZB-Ziel.
Dass Lagarde das Mandat überdehnen könnte, zieht sich wie eine Hauptsorge durch viele Wortmeldungen der Ökonomen. „Ich hoffe, dass sie dieser Versuchung widersteht“, sagt Deutsche-Bank-Chefvolkswirt David Folkerts-Landau.
Als uneingeschränkter Lagarde-Fan erweist sich DIW-Präsident Marcel Fratzscher („Aufgabe hervorragend erfüllt“). Bernd Raffelhüschen (Uni Freiburg) hält sie dagegen für eine komplette Fehlbesetzung. Sylvain Broyer (S & P Global Ratings) beschwört noch einmal das Eulen-Bild. „Bei Eulen sind ja Sehvermögen und Gehör exzellent ausgeprägt. Gerade mit der anstehenden Überprüfung der EZB-Strategie wird das Zuhören besonders wichtig.“