ÖB 02/2018: „Koalitionsvertrag: Ökonomen fällen vernichtendes Urteil“

Führende Volkswirte haben dem Koalitionsvertrag von Union und SPD ein schlechtes Zeugnis ausgestellt. Nach Schulnoten ­bewerteten sie die für die Wirtschaft relevanten Politikbe­reiche maximal mit der Note „ausreichend“. Das ergab eine Blitzumfrage des Ökonomen-­Barometers von €uro am Sonntag und dem Nachrichtensender n-tv unter Top-Ökonomen.

 von Wolfgang Ehrensberger und Markus Hinterberger, €uro am Sonntag (Artikel auf finanzen.net)

Mit einer glatten Vier als Durchschnittsnote schneidet der Bereich Digitalisierung noch am besten ab. Bei 4,6 und 4,5 landen Wirtschafts- und Finanzpolitik, Arbeit und Soziales bei 4,6. „Der Koalitionsvertrag ist ein Kompromisspapier, möglichst viele Interessen müssen berücksichtigt werden“, erläutert Thomas Gitzel. Der Chefvolkswirt der VP-Bank-Gruppe kann Positives noch am ehesten den Initiativen im Bereich Digitalisierung und Bildung abgewinnen. „Aus wirtschaftlicher Sicht habe ich die Hoffnung, dass sich bei den Infrastrukturprojekten eine Selbstdynamik entwickelt.“

Die meisten Befragten regis­trieren aber wirtschaftsfeindliche Tendenzen quer durch den Vertrag, wie David Stadelmann (Uni Bayreuth). Das reiche von der Mietpreisbremse über die aufgeschobene Steuerreform bis zur Subventionspolitik bei der Energiewende. „Man kann nur hoffen, dass der steigende internationale Standortwettbewerb den Druck zu Reformen bald erhöhen wird.“

Südeuropa lässt grüßen
Ulrich van Suntum (Universität Münster) sieht die Vereinbarung ­geprägt von „anti-marktwirtschaftlichen Interventionen und unverantwortlichen Mehrausgaben“. Deutschland gleiche seine Politik damit konsequent derjenigen der südeuropäischen Länder an. „Die Zeche wird die heutige junge Generation tragen.“

Not trifft Elend
Einige Ökonomen wie Tim Krieger von der Uni Freiburg bringen ihre Enttäuschung mit Sarkasmus auf den Punkt. „Not trifft Elend, und zusammen wirft man die riesige Umverteilungsmaschine an“, bedauert Krieger. Für Reinhold Schnabel, Finanzwissenschaftler an der Uni Duisburg-Essen, fährt die neue Regierung „mit Vollgas zurück in die Vergangenheit“. Horst Löchel von der Frankfurt School wiederum flüchtet sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner: „Besser eine Regierung als keine.“

Am Mittwoch haben sich die Spitzen von CDU, CSU und SPD auf den Koalitionsvertrag geeinigt, der noch von einzelnen Parteigremien gebilligt werden muss. Kritik gab es bereits von Wirtschaftsverbänden, aber auch von Steuerzahlerpräsident Reiner Holznagel. Sein Fazit: „Mindestens 35 Milliarden Euro an Mehrausgaben stehen allenfalls zehn Milliarden Steuerentlastung und null Euro Schuldentilgung gegenüber.“.

Das Ifo-Institut kritisiert das deutsche Steuer- und Abgabensystem als „völlig absurd“ und fordert von der Großen Koalition eine umfassende Reform. „Bei Alleinerziehenden mit ­Kindern und einem Bruttoeinkommen zwischen 1700 und 2350 Euro sinkt das Nettoeinkommen mit jedem hinzuverdienten Euro“, sagt Ifo-Experte Andreas Peichl. „Mehr brutto führt also zu weniger netto.“

Die Grenzbelastung liege bei über 100 Prozent, das müsste eine neue Regierung dringend ändern, fordert Peichl. Die ­Zahlen ergäben sich aus dem ­Zusammenspiel zwischen wegfallenden Sozialleistungen, Sozialversicherungsbeiträgen und Steuern. „Es bestehen keinerlei Anreize, eine zusätzliche Beschäftigung aufzunehmen.“

Das ändert sich

Rente: Eine doppelte Haltelinie soll garantieren, dass der Rentenbeitrag bis 2025 unter 20 Prozent des Bruttoeinkommens bleibt. Gleichzeitig soll die Höhe der Rente bei 48 Prozent des Durchschnittsentgelts aller Rentenversicherten liegen. Darüber hinaus wird die Mütterrente für Frauen, die vor 1992 drei oder mehr Kinder geboren haben, um monatlich mindestens 89 Euro (Ost) und 93 Euro (West) angehoben. Wer wegen einer Krankheit Frührentner wurde, kann auch auf mehr Geld hoffen.

Sparen: Zinserträge sollen laut einem Sondierungspapier zwischen Union und SPD nicht mit der für die meisten Anleger günstigen Abgeltungsteuer, sondern mit dem jeweiligen persönlichen Steuersatz belegt werden. Ob auch Kursgewinne und Dividenden unter den persönlichen Steuersatz fallen, ist noch ungeklärt.

Wohnen: Familien, die Eigentum kaufen oder bauen wollen, werden mit einem Baukindergeld gefördert. Pro Kind gibt es zehn Jahre lang jeweils 1200 Euro. Der Zuschuss ist an die Höhe des Haushaltseinkommens gekoppelt. Eine vierköpfige Familie darf nicht mehr als 105.000 Euro verdienen (75.000 Euro Grundfreibetrag und 15.000 Euro Freibetrag pro Kind). Zudem könnte die Grund­erwerbsteuer für Käufer von selbst genutztem Wohneigentum reduziert werden. Und der Bund will den sozialen Wohnungsbau bis 2021 mit zwei Milliarden Euro fördern. Selbstständige: Wenn sie in kein berufsständisches Versorgungswerk einzahlen, sollen sie verpflichtet werden, in die gesetzliche Rente einzuzahlen oder anders vorzusorgen.

Gesundheit: Arbeitnehmer und Arbeitgeber ­sollen den Beitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung wieder zu gleichen Teilen tragen. Der Zusatzbeitrag, den bislang nur Arbeitnehmer zahlen, soll entfallen.

Soli: Der umstrittene Steuerzuschlag soll, anders als im Wahlkampf angekündigt, erst 2021 abgeschafft werden.

Finanzvermittler: Sie unterstehen künftig der Aufsicht der Finanzaufsicht Bafin und nicht mehr der Gewerbeaufsicht. Das soll für mehr Verbraucherschutz sorgen.